Peter Köberle (2004)Ein Schloss spielt Schicksal
Kap. 1: Böses Erwachen
(Ausschnitt aus dem autobiografischen Roman von Peter Köberle, derzeit noch unvollendet,
übernommen aus: www.justizirrtum.de).
Peter Berger lag auf dem Rücken, die Augen geschlossen. Sein ganzer Körper schmerzte so sehr, als wäre er über einen steilen Bergabhang, über unzählige Klippen und Felsvorsprünge direkt in die Hölle gestürzt. Sämtliche Knochen schien er sich bei diesem Sturz zertrümmert zu haben.
Was ist los mit mir? dachte er. Er versuchte zu denken, sich zu erinnern, aber so sehr er sich mühte, er konnte nicht einen einzigen klaren Gedanken fassen in diesem dunklen, grauenvollen Schmerz. Sein Kopf glich einem riesigen, summenden Bienenhaus, in dem gleich mehrere junge Königinnen ihr Ausschwärmen vorbereiteten. Es summte und dröhnte und in wenigen Augenblicken schien ihm der Kopf zu bersten.
Wer eine ganze Woche lang, ohne Pause, von Kneipe zu Kneipe gezogen ist und volle sieben Tage lang nur den schlechtesten Fusel in ungeheuren Mengen in sich hineingeschüttet hat, wird sich bestimmt trotzdem noch viel besser fühlen. Und dann war da noch ein verrückter Schmied, der Peters Kopf als Amboß benutzte und gnadenlos darauf herumgehämmerte.
Trotz der schier unerträglichen Schmerzen spürte er, daß er in einem weichen Bett lag. Vorsichtig versuchte er die Arme, dann die Beine zu bewegen, aber selbst bei der leisesten Bewegung raste eine neue, eine noch schrecklichere Schmerzwelle durch seinen gepeinigten Körper. Also lag er ganz still da und bemühte sich stattdessen doch einen ersten klaren Gedanken zu fassen. Aber sobald er versuchte zu denken, war er wieder da, der Schmied, der seinen Kopf als Amboß benutzte: Jeder Gedanke ein neuer Schlag. Also ließ er auch das - vorerst zumindest.
Aus der Ferne vernahm er einen Signalton, einen montonen, heiser piepsenden Ton, der sich unter der Rubrik sehr bedrohlich, tief in sein Unterbewußtsein eingegraben hatte und in ihm erneut allergrößte Ängste auslöste. Obwohl er ihn schon oft gehört hatte, konnte er diesen Ton in sein bisheriges Leben nicht einordnen. Langsam schlug er die Augen auf. Er erkannte undeutlich, daß er sich anscheinend in einem weißen, nur schwach beleuchteten, Raum befand.
Ein Krankenhaus?, hämmerte der Schmied. Ermattet schloß Peter wieder die Augen. Dem Signalton folgte nun kurzzeitige Hektik an seinem Bett. Er wollte etwas sagen, doch seine Lippen zuckten nur. Berger vernahm undeutliches Stimmengewirr, das sich schnell wieder entfernte. Gleich darauf verstummte auch dieser unheimliche und eindringliche Ton. Es war wieder ganz still. Peter war wieder mit sich und den Schmerzen allein.
Du bist im Krankenhaus, stellte er fest. Er versuchte nachzudenken. Wo war er und wie war er hierher gekommen? Was war geschehen? Vorsichtig suchte er einen ersten Ansatzpunkt zu finden. Der kräftige Schmied, den er für seinen Brummschädel verantwortlich machte, erleichterte ihm die Beantwortung dieser wichtigen Frage nicht.
Peter fühlte sich zu matt und viel zu schwach, um Fragen zu stellen, die ihm nur seine Erinnerung hätte beantworten können. Also lag er einfach nur so da - ohne eine Antwort. Der Schmied hämmerte trotzdem unaufhörlich weiter.
Wie einzelne dunkle Wolkenfetzen in einem schweren Sturm um hohe Berggipfel fliegen, so kamen irgendwann die ersten Erinnerungen. Es waren nur einzelne wirre Bruchstücke, die mehr verhüllten als sie freigaben. Vorsichtig versuchte er, diese ersten Gedanken zu ordnen. Wenn er einen zu fassen glaubte, waren er längst schon wieder im Dunkel der Nacht verschwunden.
Der unerträgliche Schmerz, der sich wie ein wütendes Raubtier in jede Faser seines Körpers verbissen hatte und der schreckliche Schmied, der pausenlos in seinem Kopf hämmerte, drängten jeden aufkommenden Gedanken sofort in ein tiefes schwarzes Loch.
Und dann, irgendwann war die erste Erinnerung da: Er hatte einen schrecklichen, ihm völlig unbekannten Schmerz in der Brust verspürt und dann einen Gewehrknall gehört. Man hatte auf ihn geschossen! Jemand hatte versucht, ihn umzubringen!
Nun erinnerte er sich wieder: er hatte schwerverletzt und ganz allein im kurzen Gras auf dem Golfplatz gelegen und vergeblich auf Hilfe gewartet. Nach einer endlos langen Stunde kam eine ihm unbekannte Frau vorbei, die er um Hilfe gebeten hatte.
Jetzt war er hier, in einem weichen Bett, in der Nähe von Menschen. Er lebte noch. Das war sein erster klarer und überaus beruhigender Gedanke. Bald würde alles wieder gut sein.
Schmerz und Mattigkeit übermannten ihn wieder.
Irgendwann begannen sein Gehirn wieder gegen den Schmied zu kämpfen: wild und ungeordnet schwirrten die Gedanken jetzt durch Peters Kopf. Wer hatte ihn aus dem Hinterhalt heimtückisch und brutal aus dem Weg räumen wollen?
Wie durch ein Wunder war ihm in der langen Stunde des Wartens auf Hilfe das schreckliche Gefühl der Todesangst erspart geblieben. Als die von der unbekannten Frau alarmierten Helfer eintrafen, war er noch bei vollen Bewußtsein und konnte noch all deren Fragen beantworten.
Nachdem ihm der Notarzt ein Schmerzmittel in die Vene gespritzt und dabei beruhigend gesagt hatte: Ich bin Arzt Herr Berger, haben Sie keine Angst! Bald wird alles wieder gut sein. Ich bin da, um Ihnen zu helfen, war er in einer langen dunklen Nacht versunken, in der es für ihn nur allerschlimmste Albträume und eine unklare, aber eine mit größten Ängsten verbundene Erinnerung an diesen Piepston gab.
Warum hat Josef nur keine Hilfe geholt? fragte sich Peter.
Josef war doch bei mir, in unmittelbarer Nähe, als mich die Kugel traf? Als erfahrener Jäger wußte er doch ganz genau, daß jede Minute ohne ärztliche Hilfe meine Überlebenschancen unweigerlich verminderten, ja schlichtweg für mich das endgültige Todesurteil bedeuteten?
Diese Fragen drängten sich immer quälender in den Raum, ohne daß es darauf eine Antwort gab.
Bald fiel Berger wieder in einen unruhigen Dämmerschlaf. Dann gegann sich das Karussell der wilden und völlig ungeordneten Gedanken wieder zu drehen.
Als Peter erneut die Augen öffnete, versuchte er seine Umgebung wahrzunehmen. Sein Blick wanderte langsam durchs Zimmer und blieb an der Infusionsflaschen haften, die an einem Metallständer rechts neben seinem Bett, hingen. An ihrer Unterseite war ein Plastikschlauch befestigt, der von rechts oben direkt auf seinen Körper zulief und in seiner Armbeuge verschwand. Während dies sein Unterbewußtsein noch registrierte, waren ihm die Augen längst schon wieder zugefallen.
Wieder öffnete Peter die Augen. Sein Blick fiel erneut auf diese lebensspendende Behälter. Eine der Flaschen wurde gerade leer. Unten, dort wo der Schlauch am Behälter befestigt war, da bildete sich eine kleine Luftblase, die ganz langsam in diesem Schlauch auf seinen Körper zukam. Peter war sicher, daß nun jeden Augenblick eine Schwester kommen und diese Flasche austauschen würde.
Doch keine Schwester kam. Stattdessen kroch die kleine Blase langsam und unaufhaltsam immer näher auf seinen Körper zu. Plötzlich verspürte Peter Angst, eine große Gefahr. In Kriminalfilmen hatte er gesehen, wie das beim ersten Versuch verfehlte Mordopfer mit in die Venen gespritzter Luft lautlos, aber erfolgreich, doch noch umgebracht worden war. Auch bei ihm war der erste Versuch knapp danebengegangen. Jemand hatte seinen Tod gewollt, da war er sich inzwischen ganz sicher.
Peters Angst steigerte sich und dann erfaßte ihn Panik. Sein Puls begann zu rasen. Sein Herz schlug hart gegen die Rippen. Verzweifelt rang er nach Luft.
Sie haben mich gefunden. Sie bringen mich um! schrie er, aber kein Ton kam über seine zuckenden Lippen.
Er suchte nach dem Klingelknopf, doch seine Arme bewegten sich nicht von der Stelle. Er versuchte die Beine an den Bettrand zu schieben um aufzustehen und davonzulaufen. Sein Körper rührte sich nicht. Peter lag einfach nur so da und mußte mit ansehen, daß er seinem schrecklichen Ende dieses Mal nicht mehr würde ausweichen können, das sich in Gestalt einer kleinen Luftblase ganz langsam, aber unaufhaltsam seinem Körper näherte. Gab es wirklich niemanden, der in letzter Sekunde, ihn, Peter Berger, vor diesem gewaltsamen Ende bewahren, diesen Schlauch von seinem Körper entfernte? Kalter Angstschweiß drang aus allen Poren seines Körpers.
Und jetzt, ja, jetzt hörte er ihn wieder, diesen durchdringenden Ton, der sich in sein Gedächtnis eingebrannt hatte und der ihn auch dieses Mal erschreckte. Er schien aus weiter Ferne zu kommen, er wurde lauter und eindringlicher bis er den ganzen Raum erfüllte, was seine Angst nur noch weiter ins Unermeßliche steigerte.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte Peter auf das tödliche Monster im Plastikschlauch. Was hätte er in diesem Augenblick gegeben, wenn nur irgend jemand die Zeit angehalten hätte. Die kleine Blase, die sich langsam seinem Körper näherte, die in wenigen Augenblicken von ihm endgültig Besitz ergreifen würde, sie wurde zum tödlichen, sprungbereiten Monster. Warum hörte niemand seine angstvollen Rufe? Warum war sein Körper ein ganz anderes Ich geworden, über das er nicht mehr befehlen konnte?
Nach einer schier endlosen Zeit, so schien es ihm, kamen Krankenschwestern, von den Alarmtönen der Überwachungsapparaturen aufgeschreckt, an sein Bett. Die hochsensiblen hightech Bodygards in seinem Zimmer, hatten in der Vergangenheit oft blinden Alarm ausgelöst, wenn der Patient nur unter schweren Albträumen litt. Oftmals aber waren sie die Retter in höchst lebensbedrohlichen Situationen gewesen. Nie hatte Peter in der letzten Zeit erkennbare Reaktionen gezeigt. Heute aber war das anders.
Er war bei Bewußtsein. Aus seinen weit aufgerissenen Augen sprach panische Todesangst. Sie schrien verzweifelt nach Hilfe.
Entfernt doch endlich diesen Schlauch! Ich will nicht sterben. So helft mir doch, schrie Berger, aber kein Laut kam über seine Lippen - sie zuckten nur.
Ich will nicht sterben, so helft mir doch! schrieen seine Augen, aber sein Mund blieb stumm. Hektisch wanderten seine Augen von der Luftblase im Schlauch, zu seiner Armbeuge und dann wieder zurück zur Luftblase, die ihren todbringenden Weg langsam, aber unaufhaltsam fortsetzte und immer näher kam.
Die Schwestern sahen sich völlig irritiert und verständnislos an.
Mein Gott so helft mir doch! Entfernt endlich diesen Schlauch, macht ihn weg!
Wollten sie oder konnten sie ihn nicht verstehen oder waren auch sie gar Beteiligte dieses mörderischen Komplotts gegen ihn, die jetzt mithalfen, vollendete Tatsachen zu schaffen, um auch die letzten Spuren eines mörderischen Verbrechens zu beseitigen?
Seine Augen rasten vom Schlauch zur Armbeuge, von der Armbeuge zum Schlauch. Nichts und niemand schien die kleine Blase auf ihrem Weg aufhalten zu wollen und die Schwestern standen nur untätig da.
Nach einer scheinbaren Ewigkeit erkannte eine der Schwestern die Situation und zeigte auf den Plastikschlauch. Als Zeichen des Verstehens schloß Peter kurz die Augen. Vorsichtig entfernte die Schwester den Schlauch. Fast augenblicklich verstummte das Warnsignal.
Völlig schweißgebadet und erschöpft, aber überglücklich lag Peter in seinem Bett. Er war überzeugt, sein Leben war soeben in der letzen Sekunde zum zweiten Mal gerettet worden. Das Leben konnte wieder weitergehen. Er war so dankbar und konnte dies nicht einmal sagen.
In den nächsten Minuten kamen immer mehr Ärzte und Schwestern in sein Zimmer. Welch böses Spiel hatten sie alle mit ihm getrieben. Das war kein lustiger Scherz. Peter war gerade durch die schlimmste Hölle seines Lebens gegangen. Die Ärzte und Schwestern schienen sich im Augenblick sogar zu freuen. Er begriff die Welt nicht mehr und starrte sie nur verständnislos an.
Aus einem Gewirr weißer und grüner Kittel schob sich langsam ein Arzt in einem grünen Kittel nach vorne an Peters Bett. Sein Gesicht wirkte in diesem fahlen Licht sehr blaß. Der Arzt schien übermüdet zu sein. Trotzdem versteckten sich hinter einer randlosen Brille zwei muntere und freundliche Augen. Er lächelte Peter an und sagte:
Schön, daß Sie jetzt wieder bei uns sind. Vor dieser kleinen Luftblase brauchen Sie keine Angst zu haben. Sie ist das Sicherheitssystem. Sie sind hier bei uns in guten Händen. Wir alle wollen, daß sie ganz schnell wieder gesund werden. Sodann befestigte er den Schlauch wieder an der Infusionsnadel. Beruhigend strich er mit der Hand über Peters Gesicht.
Bei diesen Worten erkannte Peter, daß er völlig grundlos die furchtbarsten Ängste seines Lebens ausgestanden und sich lächerlich gemacht hatte. Dieses erste Erlebnis nach dem Erwachen, waren die schlimmsten Augenblicke in Peters seitherigen Leben, viel schlimmer, als die ganze lange Stunde, die er lebensgefährlich verletzt auf dem Golfplatz auf Hilfe gewartet hatte. Wer kann eine solche Situation verstehen, in der es scheinbar um Leben und Tod geht, und die sich am Ende im wahrsten Sinne des Wortes, absolut harmlos in ein bißchen Luft auflöst?
Peters Ängste waren die Fortsetzung der vielen Albträume, in denen schlimmste Fieberphantasien das Unterbewußtsein überlagert hatten.
Langsam wurden seine Gedanken ruhiger. Er versuchte sie jetzt zeitlich einzuordnen um daraus allmählich ein einheitliches Bild zu formen. Noch hatte er kein Gefühl für die Zeit. Er wußte nicht, war es noch Tag oder schon dunkle Nacht. Das fahle Licht des Zimmers gab darauf keine Antwort. Ein Fenster schien dieser Raum nicht zu haben.
Allmählich nahm Peter seine Umgebung wahr. Er lag allein im Zimmer. Neben dem Gestell mit den Infusionsflaschen gab es noch eine ganze Reihe von Apparaturen und Geräten, von denen ein Dutzend Schläuche und Kabel zu seinem Körper führten. Es war ganz still. An der weit geöffneten Tür, vermutlich zum Schwesternzimmer, sah er von Zeit zu Zeit Pfleger und Schwestern vorübereilen. Er hatte kein Gefühl für die Zeit. Er befand sich mehr in einer Art von Dämmerschlaf, als von Wachsein. Waren seit seinem Erwachen nur Minuten, oder schon Stunden vergangen, als, von ihm unbemerkt, eine Schwester mit einem Tablett an sein Bett trat. Sie setzte sich an den Rand des Bettes und sagte:
Guten Abend, Herr Berger! Sie werden nach so langer Zeit sicher großen Hunger haben. Ich bringe Ihnen Ihr Abendessen.
Peter Berger hatte so gut wie nichts verstanden. Er hatte versucht, ihr die Worte vom Mund abzulesen. Er nickte schwach und versuchte zu lächeln.
Es ist also Abend, dachte er. Die Worte der Schwester waren die erste wichtige zeitliche Einordnung. Er bekam ein ganz normales Abendessen, so wie es viele Tausende von Patienten täglich in anderen Krankenhäusern auch erhalten verschiedene Sorten Brot, etwas Käse und Wurst. Es war keine Schon- oder Diätkost wie für schwerkranke Patienten. Diese Feststellung war überaus beruhigend, denn dann war er ein ganz normaler Patient. Es war also alles nur halb so schlimm. In wenigen Tagen würde er wieder gesund sein und sicher schon bald nach Hause entlassen werden.
Die Schwester, die sich als Schwester Elisabeth vorstellte, hob das Kopfteil des Bettes an. Während sie eine Scheibe Brot mit etwas Butter bestrich und mit zwei Scheiben Wurst belegte, erzählte sie, daß er auf der Intensivstation der Uniklinik in Dresden lag und wegen eines Luftröhrenschnitts nicht sprechen konnte. Sie forderte ihn auf:
Wenn Sie auf meine Fragen antworten, nicken Sie nur oder schütteln den Kopf. Wir werden Sie dann schon verstehen. Bitte nehmen Sie und essen Sie, damit Sie bald wieder zu Kräften kommen.
Ich kann nichts hören, wollte Peter sagen. Aber er blieb stumm.
Er wollte nach dem Brot auf dem Teller greifen. Seine Arme aber waren steif und kraftlos. Sie ließen sich nicht einen Zentimeter bewegen. Geradezu liebevoll begann ihn die Schwester zu füttern. Schon das Öffnen des Mundes führte zu ersten Problemen. Peter bekam die Zähne nur noch ein kleines Stück auseinander. Jede einzelne Kaubewegung schmerzte in den Kiefern, was das Dröhnen in seinem Kopf unangenehm verstärkte. Der Schmied hämmerte wieder pausenlos. Zwischen den kleinen Häppchen bekam er warmen Tee zu trinken. Peter hatte Durst, unsäglichen Durst! Bereits nach dem dritten Bissen winkte er ab. Nicht, daß er bereits satt gewesen wäre, nein, das Kauen fiel ihm so schwer. Aber Schwester Elisabeth war unerbittlich, sie ermunterte ihn bei jedem einzelnen Bissen. So aß er an diesem Abend doch noch eine ganze Scheibe Brot.
Haben Sie noch einen Wunsch? fragte die Schwester. Peter schüttelte nur schwach mit dem Kopf.
Nachdem ihm Schwester Elisabeth zart mit der Hand über die hohlen Wangen und den Handrücken gestreichelt hatte, räumte sie die Essensreste fort.
Warum bin ich nur so schwach? Fragte sich der Patient, warum bewegen sich meine Arme und meine Beine nicht? Warum habe ich nur so unerträgliche Schmerzen? Weil er nicht fragen konnte, bekam er auch keine Antworten.
Nach dem mühsamst hinuntergewürgten Essen, stellte Schwester Elisabeth das Oberteil des Krankenbettes noch etwas höher. Peter war nur mit einem einfachen weißen Krankenhemd bekleidet. Bis zu den Hüften war sein Körper mit einem weißen Tuch zugedeckt unter dem mehrere Kabel und Schläuche verschwanden.
Kurze Zeit später kam Schwester Elisabeth mit zwei Helfern, um ihn zu waschen. Sie schlugen das Laken zurück und zogen ihm das nur am Hals zusammengebundene Hemd aus. Halb sitzend sah Peter Berger nun zum erstenmal seinen nackten und geschundenen Körper.
Peter Berger war Mitte fünfzig, etwa einsachtzig groß. Die Waage zeigte seit Jahren ein konstantes Gewicht von knapp neunzig Kilo. Obwohl er nur mäßig Sport trieb, war sein Körper als muskulös und durchaus sportlich zu bezeichnen. Nie hatte er ein Krankenhaus als Patient von innen gesehen. Ärzte und Apotheker hätten bei ihm in der Vergangenheit ein Hungerdasein fristen müssen. Für die gewinnorientierte Versicherungswirtschaft war er über vierzig Jahre der klassische Idealfall für deren Gewinnmaximierung.
Nun schaute Peter auf seinen nackten Körper und erschrak. War das er, war das Peter Berger? Hier lag ein Skelett, das nur noch von einer fahlen und schrumpeligen Haut vor dem Auseinanderfallen bewahrt wurde. Der Brustkorb glich einem Waschbrett aus dem sich die einzelnen Rippenbogen durch die graue Haut drückten. Wer sich an die Fotos der fast verhungerten KZ-Häftlinge bei ihrer Befreiung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert, oder an Bilder aus den afrikanischen Hungergebieten, der kann sich bildlich das Häufchen Elend vorstellen, das völlig entkräftet und bewegungslos in diesem Bett lag. Wenn er sich nicht selbst mit eigenen Augen sehen würde, Peter würde diesen fremd erscheinenden Körper nicht mehr als den eigenen erkennen können.
Vorsichtig wurde er gewaschen und die Tücher des Betts gewechselt. Jede Berührung, selbst die leiseste, schmerzte ungemein. Die Empfindlichkeit seines Körpers übertraf sogar noch das Dröhnen im Kopf. Nachdem er gewaschen und das Bettzeug erneuert war, wünschten ihm die Helfer eine gute Nacht:
Schlaf gab es in dieser und auch den folgenden Nächten nur wenig. Sowohl die großen Schmerzen, wie auch das andauernde Dröhnen in seinem Kopf ließen keinen Schlaf oder größere Ruhephasen zu. Es war ein Dahindösen, ohne Gefühl für Zeit und Raum, das nur von den Kontrollen der Schwestern oder auch den Signaltönen irgendwelcher Apparaturen unterbrochen wurde. So hatte Peter genügend Zeit, seine Gedanken und seine Erinnerungen während der ersten langen Nächte zu ordnen und das furchtbare, ihm völlig unverständliche Geschehen langsam zu begreifen.
Was war alles seit dem Mordanschlag geschehen? Wieviel Tage waren seitdem vergangen? Peter spürte, daß er einige Tage ohne Bewußtsein gewesen war. Immer wieder hatten in seinen Albträumen böse Mächte versucht, ihn mit Versprechungen in eine andere Welt zu locken oder mit Drohungen dorthin zu entführen.
Oft nahe am Abgrund, war es Peter immer wieder gelungen, sich deren dunklen Einfluß zu entziehen und bei Freunden Schutz und Hilfe zu finden. Mord- und tödliche Feindschaften und dem Tod selbst in vielerlei Gestalt, war er auf seiner langen durstigen Wanderschaft durch die Unterwelt des Überlebenskampfes begegnet, aber auch ehrlichen und hilfsbereiten Menschen, die ihn aufnahmen und ihm oft im letzten Augenblick weitergeholfen hatten.
In dieser Zone zwischen Leben und Tod, zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Himmel und Hölle wehrt sich der gesunde Verstand und ein kräftiger Körper mit aller Kraft gegen einen zu frühen Tod. Peters Körper hatte diesen Kampf schon fast verloren. Mehrfach hatte er in einem nahezu aussichtslosen Ringen aufgegeben. In diesem schon fast endgültigen Stadium war es der ärztlichen Kunst mit modernster Technik und einem nahezu übermenschlichen Einsatz des Pflegepersonals immer noch einmal gelungen, seine letzten Überlebenskräfte zu mobilisieren und ihm sein Leben zurückzugeben.
Irgendwann, wurde er wieder gewaschen und bekam sein erstes Frühstück. Hunger hatte er keinen, dafür aber einen ganz gewaltigen Durst. Sein ganzer Körper schien leer und ausgebrannt. Gierig zog er den warmen Tee durch den Strohhalm, den ihm die Schwester in den Mund gesteckt hatte. Mit jedem Schluck fühlte er sich ein wenig besser, soweit man von Besserfühlen in seinem Zustand überhaupt sprechen konnte.
Mehrere Ärzte untersuchten ihn an diesem Morgen. Ihr Gesichtsausdruck war ernst, doch zeigte er auch Zufriedenheit. Kurz nachdem ihm eine Ärztin nach mehreren Fehlversuchen doch noch einige Blutstropfen aus seinem ausgedörrten Körper abgezapft hatte, begann die erste Krankengymnastik.
Mühsam versuchten zwei Therapeuten den Bewegungsspielraum der einzelnen Gelenke, von den Fingern bis zu den Zehen, auszuloten. Obwohl Peter versuchte, sie bei ihrer Arbeit zu unterstützen, hatte er nicht die Kraft, Arme oder Beine zu bewegen. Ein riesiger Polyp hatte alle Kraft und allen Mumm aus seinem Körper gesogen. Fehlte ihm nur die Kraft oder hatten seine vollkommen eingesteiften Gelenke andere Ursachen? Was war mit ihm geschehen?
Würde er jemals wieder gesund werden? Die ersten Zweifel kamen. Die Erkenntnis über das wahre Ausmaß der körperlichen Katastrophe und der daraus resultierenden dauerhaften Einschränkungen, wurde durch die verabreichten Medikamente noch lange abgemildert. Die Hoffnung auf eine baldige Gesundung blieb zunächst erhalten.
* * *
Am nächsten Morgen wurde er von sechs Helfern aus dem Bett gehievt und danach auf einem Wagen in einen Baderaum geschoben. Dort wurden die vielen offenen Wunden zugeklebt. Vorsichtig wurde er von den Schwestern und Therapeuten in eine große Badewanne mit warmen Wasser gelegt. Die minimalen Bewegungsversuche der Gelenke vom Vortag wurden fortgesetzt. Er konnte weder Arme noch Beine bewegen, nicht einmal einen Finger krümmen. Das unablässige Dröhnen und Hämmern in seinem Kopf ließ im warmen Wasser ein bißchen nach. Jede Berührung und jede Bewegung waren dagegen ungemein schmerzhaft. Warum nur quälten sie ihn bis an die Grenze des Erträglichen?
Nach einer guten halben Stunde lag Peter wieder im Bett. Das warme Wasser hatte ihm gutgetan! Aber, sein körperlicher Zustand schien sehr viel schlechter zu sein, als er anfangs wahrhaben wollte.
Hatten auch sein Geist und sein Gedächtnis durch die Tat so schwer gelitten? Über diese Frage dachte er jetzt häufig nach, fand aber noch keine Antwort. Zumindest seine Erinnerungen, sowohl an das Attentat auf ihn, wie auch an die Zeit davor, ja zurück bis in die Kindheit, waren da.
Um Peter Berger rasch von seinen beiden Beatmungsgeräten zu entwöhnen, wurde ihm schon am nächsten Tag eine Sprechkanülle in die offene Luftröhre eingeführt. Zusätzlich bekam er Sauerstoff zugeleitet. Kaum waren die Beatmungsgeräte ausgeschaltet, glaubte Peter anfänglich zu ersticken, was den Arzt und das Pflegepersonal scheinbar kaum berührte. Als sich sein Atem etwas stabilisiert hatte, forderte ihn der Arzt auf, einige Worte nachzusprechen. Mühsam krächzte Peter die ersten Worte, die völlig verfremdet klangen, ähnlich einer Computerstimme. Die Rückkehr in ein normales Leben hatte begonnen. Es sollte aber ein sehr langer und qualvoller Leidensweg werden, stets voller Hoffnung auf Gesundung und stets begleitet von der noch größeren Angst vor einer unsicheren persönlichen Zukunft.
Mehrfach an diesem Tag mußte Peter diese Prozedur über sich ergehen lassen. Am nächsten Morgen waren die Beatmungsgeräte wieder ausgeschaltet, als eine Gruppe von Medizinstudenten an sein Bett trat. Unter Anleitung des Stationsarztes hörten sie die Herz- und Lungentöne ab. Einer der Studenten fragte wie beiläufig, ob Peter wisse, welcher Tag heute sei.
Peter dachte kurz nach und antwortete:
Mein Unfall war am 30. Juli. Ich war mehrere Tage bewußtlos. Seit drei Tagen bin ich jetzt wach. Also müßten wir heute einen Tag um den fünfzehnten August haben.
Der Student lächelte nachdenklich und nickte mit dem Kopf. Ohne noch etwas zu sagen, folgte er der Gruppe, die sich gerade aus dem Zimmer entfernte. Peter war zufrieden. Er hatte die Zeit richtig eingeordnet. Das war gut so, denn so blieben ihm noch gute zwei Wochen, um die bereits begonnene Aufstellung für die Investitionskostenzulage rechtzeitig beim Finanzamt einreichen zu können. Unbewußt hatte Peter zum ersten Mal begonnen, wieder in die Zukunft zu denken.
* * *
Carin, seine langjährige Lebenspartnerin, rief jeden Morgen in der Klinik an, um sich über seinen Gesundheitszustand zu informieren. Noch war das Sprechgerät eingesetzt. Deshalb brachte die Schwester das Telefon und hielt es an Peters Ohr. Er spürte Carins Anspannung am andern Ende der Leitung, als sie sagte:
Ich vermisse Dich sehr. Wie geht es Dir heute?
Ich bin sehr sehr schwach und kann mich nicht bewegen. Mir tut alles so weh. Wie geht es Dir? Was hast Du gestern gemacht?
Ich war bei meiner Tante. Wir haben über Dich gesprochen und dabei ein Gläschen Wein getrunken, antwortete Carin.
Ach ja, Du hattest gestern Geburtstag. Den habe ich ganz vergessen. Ich gratuliere nachträglich und wünsche Dir alles Gute!
Über meinen Geburtstag mache Dir keine Gedanken. Der ist schon lange vorbei. Wir haben längst Herbst. Heute ist der sechste November, hatte ihm Carin darauf geantwortet.
Der sechste November? krächzte Peter erschrocken in den Apparat. Das war eine schockierende Nachricht, die Peter wie ein schwerer Keulenschlag traf. Er schloß die Augen und einige salzige Tränen sammelten sich in seinen tiefen Augenhöhlen. Die Schwester nickte und streichelte seine Wangen. Sie hatte gesehen, wie Peter zusammengezuckt war. Das nackte Entsetzen war ihm ins Gesicht geschrieben.
Die Schwester unterbrach das Gespräch und faßte seine Hand. Er schloß die Augen, um seine Gefühle nicht nach außen zu zeigen. Er mußte mit dieser schrecklichen Wahrheit in diesen Sekunden allein fertigwerden. Niemand konnte ihm dabei helfen.
Jetzt war es Herbst. Der Unfall war im Sommer. Er rechnete nach, er war nicht zehn, sondern fast hundert Tage im Koma gelegen! Hundert wertvolle Tage seines Lebens waren an ihm unbemerkt vorübergegangen, er hatte sie verpaßt!
Was war in diesen hundert Tagen alles geschehen?
Hundert Tage - das war in seiner Situation schon fast eine Ewigkeit! Er lag nun schon über hundert Tage im Krankenhaus, die wohl ohne Erinnerung, aber nicht spurlos an ihm vorübergegangen waren. Diese Tage waren für immer unwiederbringlich verloren, einfach in einem dunklen Loch verschwunden. Deshalb also war er so schwach und steif und deshalb wollten ihn die Ärzte so schnell wie möglich von den Apparaten entwöhnen und durften bei der Behandlung auf ihn kaum Rücksicht nehmen. Wenn er seinen Körper betrachtete, dann ahnte er, daß diese hundert Tage für ihn sehr schwer gewesen sein mußten.
Peters Leben bestand jetzt nur noch aus einem Heute und Morgen und aus einem Vorgestern. Die Verbindungen zwischen diesen Erinnerungen funktionierten nach dem Erwachen von Anfang an. Es gab keinerlei Lücken. Das Gestern aber war und blieb für immer in einem großen dunklen Loch verschwunden. Nicht einmal im Traum versuchte dieses Gestern nochmals zurückzukommen.
2. Kapitel: Ananas
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