Peter Köberle (2004)Ein Schloss spielt Schicksal
Kap. 2: Ananas
(Ausschnitt aus dem autobiografischen Roman von Peter Köberle, derzeit noch unvollendet,
übernommen aus: www.justizirrtum.de).
Seit fast zwanzig Jahren war Carin Peters Lebenspartnerin. Es war nicht die große Liebe auf den ersten Blick. Anfangs war es nur eine echte und gute Freundschaft. Viele Umstände und Zufälligkeiten des Lebens hatte ihre Verbindung wachsen lassen und sie ganz allmählich über eine Schicksals- zu einer Lebensgemeinschaft zusammengeschweißt.
Carin war am Tag des Attentats ebenfalls in Rammenau. Peter konnte sich jedoch nicht daran erinnern, sie bei den Helfern oder dem Notarzt gesehen zu haben. Er wußte genau, daß er sich von ihr und seinen Kindern über die ersten Helfer verabschiedet und letzte Grüße hatte ausrichten lassen. Carin hatte die Intrigen und bösartigen Verleumdungen der letzten Monate miterlebt. Sie hatte die Hoffnung auf die nahe bevorstehende Lösung mitgetragen und Peter vorbehaltlos unterstützt. Sie war ein solider Partner, eine starke Stütze in ihrem gemeinsamen Leben.
Wohin sollte, wohin konnte die gemeinsame Zukunft nach diesem mörderischen Verbrechen und den schlimmen Folgen, die Peter allmählich mehr und mehr erkannte, noch führen? Eine Antwort darauf gab es noch nicht.
Carin hatte Peter beim ersten Telefongespräch sehr erschreckt. Erst nach diesem kurzen Gespräch waren ihm das wahre Ausmaß des Anschlags und die Folgen bewußt geworden. Hundert Tage mußte er zwischen Leben und Tod geschwebt und hundert Tage mußte Carin um ihn gebangt haben. Während sich Peter im Nichts aufhielt und all den Schrecken um sich herum nicht mehr wahrnahm, war für Carin jeder neue Tag ein langer Tag zwischen Hoffen und Bangen. Sein Körper hatte in diesen Monaten einen sehr sehr hohen Preis bezahlen müssen, sie dagegen hatte monatelang unter einem fast übermenschlichen physischen Druck gestanden
In den ersten Tagen nach dem Erwachen wurden die Beatmungsgeräte mehrmals nur für einige Minuten abgeschaltet, in denen er mit dem Sprechapparat erste Sprachübungen durchführen mußte.
Carin hatte ihr Kommen für das Wochenende bei den Schwestern angekündigt. Täglich hatte sie sich nach seinem Zustand erkundigt, der von den Ärzten über viele Wochen als sehr bedenklich und mehrfach als äußerst kritisch bezeichnet worden war.
Carin kam am frühen Nachmittag. Sie war etwa einsfünfundsechzig groß und schlank. Man schätzte sie gerne um einige Jahre jünger. Jetzt sah sie blaß und übermüdet aus, als sie an sein Bett trat und vorsichtig seine Hand in die ihre nahm. Als Peter sie ansah, schien es ihm, als sei sie um viele Jahre gealtert. Die Sorgen, die Ängste und Nöte der vergangenen Monate waren ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Mit einem Lächeln versuchte sie, ihre Nervosität zu überspielen.
Das Wunder, an das sie oft kaum mehr geglaubt hatte, war eingetreten. Die Ärzte hatten es geschafft. Peter war nach über hundert schrecklichen Tagen erwacht und wieder ansprechbar. Wie freute sie sich auf dieses Wiedersehen!
Bereits wenige Tage nach dem Attentat hatten sich die früher gegen Peter gerichteten Angriffe auch gegen sie gewandt. Selbst die in der Vergangenheit loyal zu Peter stehenden Partner wurden von den Ereig-nissen überrollt. Sie ließen sich von der Negativpropaganda gegen Peter überzeugen, ohne die Wahrheit zu erkennen, und zwangen Carin zum Ausscheiden aus den Gesellschaften. Sie hatte in jenen Tagen nicht mehr die Kraft, sich gegen dieses grobe Unrecht zu wehren. Sie war nach Peter am besten über viele Vorgänge informiert. Deshalb wurde sie jetzt verteufelt und sie bedroht. Man wollte mit allen Mitteln verhindern, daß sie Bergers Stelle einnahm. Ihre Anwesenheit hätte bedeutet, daß das soeben verhinderte Projekt doch noch in die Tat umgesetzt worden wäre.
Sie sah ihm forschend in die Augen, als suche sie nach etwas Bestimmtem, hauchte einen Kuß auf seine Stirn und setzte sich dann in die Nähe des Bettes. Ein schwaches Lächeln huschte über sein wachsbleiches, knöchernes Gesicht, in dem die Augen glanzlos tief in dunkel umrandeten Höhlen lagen. Seine glanzlosen blauen Augen betrachtete sie lange. Sie schienen zu fragen: Warum tut man mir solches Unrecht an? Welchen Grund gibt es dafür?
Er hätte weinen wollen. Seine Augen wurden feucht, doch nicht eine einzige Träne floß; sein Körper war zu ausgezehrt und ausgetrocknet.
Carin konnte diesem anklagenden Blick nicht widerstehen. Sie rannte aus dem Zimmer. Sie wollte nicht weinen. Abe sie konnte sich nicht beherrschen. Die Tränen liefen über ihr Gesicht, einem Sturzbach gleich. Es waren die tausend Tränen der Angst, die sich mischten mit den Tränen der Erleichterung. Sie hatte in Peter Bergers Augen gesehen, daß sein Verstand nicht in Mitleidenschaft gezogen worden war. Die Ärzte hatten ihr zwar immer wieder versichert, daß keine Cerebralschäden zu verzeichnen wären. Aber was bedeutete das schon? Erst wenn der Patient wieder bei vollem Bewußtsein war, konnte ein Gehirnschaden wirklich ausgeschlossen werden. Sie hatte tausend Ängste ausgestanden und die Gedanken daran immer wieder zu verdrängen versucht.
Als sie zurückkam, sah Peter ihr verweintes Gesicht. Er wollte sie trösten. Sie wollte ihm etwas sagen, doch er verstand ihre Worte nicht. Er sah sie nur schwach und müde an. Es dauerte einige Minuten bis Carin erkannte, daß er nur Worte verstehen konnte, die direkt neben seinem Ohr gesprochen wurden. Peter war in jenen Tagen noch nahezu taub.
Da er nicht sprechen konnte, schlug Carin vor, bei einem Ja die Augen zu schließen, keine Reaktion der Augen bedeutete Nein.
Hast Du einen Wunsch? fragte sie.
Seine Augen sagten: Ja, denn seit seinem Erwachen plagte ihn ein sehr großer Durst, den er bis jetzt hatte noch nicht stillen können. Die Lutscher mit Zitronengeschmack, die ihm von Zeit zu Zeit von den Schwestern in den Mund gesteckt wurden, linderten wohl geringfügig das Durstgefühl, löschten aber nicht den ungeheuren Durst, der in seinem Körper wie ein loderndes Feuer brannte.
(Später erzählte man Peter, daß er auch in der tieftsten Bewußtlosigkeit diese Lutschstengel gar nicht mochte und sie, sobald man sie ihm in den Mund gesteckt hatte, sofort wieder mit der Zunge herausgeschoben hatte.)
Auch in vielen seiner Albträume hatte er Durst, Durst und nochmals Durst.
Sag mir, was Du willst. Formuliere es mit den Lippen. Ich versuche es vom Mund abzulesen.
Er versuchte es. Es war sinnlos. Seine Lippen waren verschoben und bewegten sich kaum. Nach jedem Rateversuch des von Carin genannten Begriffs reagierte er mit einem Nein.
Nach einer Weile holte Carin ein Blatt Papier und einen Stift, legte ihn in seine Rechte und forderte ihn auf:
Komm, schreib einfach auf was Du gerne hättest.
Dieser Versuch scheiterte noch kläglicher. Die Hände, das Papier und der Stift blieben auf der Decke liegen. Peters völlig steife Finger hatten keine Kraft. Jede Verständigung schien unmöglich und dabei hätte Carin mit ihm über so vieles reden wollen.
Liebe, aber auch Not, machen erfinderisch. Peter hatte einen Wunsch, den ihm Carin nur zu gerne erfüllen wollte. Also schrieb sie in vier Reihen das Alphabet von A Z auf. Dann legte sie ihm erneut den Stift zwischen die steifen Finger und sagte:
Zeige mit dem Sift einfach auf die Buchstaben, dann wissen wir bald, was du willst. Sie sah, daß er sich abmühte, den Stift zu halten. Aber er lag nur kraftlos zwischen den steifen Fingern, die ihn nicht halten konnten. Er schaute sie hilflos an. Er wollte ihr sagen: Ich kann das nicht. Es geht einfach nicht!
Nach einer Weile suchte Carin einen andern Weg. Sie fragte:
Ist der Buchstabe in dieser Reihe? Ja, antworteten Peters Augen.
Nachdem die Reihe und dann der Buchstabe durch das Schließen der Augen bestimmt worden war, ergab sich nach langem Suchen endlich der Begriff. Das einfache Wort lautete:
A N A N A S
Ein nochmaliges Ja seiner Augen bestätigte das Lösungswort. Carin wunderte sich zwar insgeheim über diesen Wunsch, da sie sich nicht erinnern konnte, daß Peter je großen Wert auf eine frische Ananas gelegt hätte. Aber vielleicht hatte er im Fieber davon geträumt? In einem Dresdner Hotel hatte der Koch Verständnis für ihren ausgefallenen Wunsch und verkaufte ihr am Sonntag eine frische Ananas. Freudestrahlend brachte Carin die frische Ananas in die Klinik.
Kaum erkannte Peter das mitgebrachte Geschenk, stand ihm die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Er hatte Ananas gewollt, aber nicht wegen der Frucht, sondern nur wegen des süßen Saftes. Er hatte so großen Durst und er hatte sich so sehr gefreut, auf
A N A N A S in der D o s e.
Carin sah seine große Enttäuschung, konnte sich aber nicht erklären, was sie falsch gemacht hatte. Als sie ihn fragte:
Soll ich die Ananas aufschneiden und Dir kleine Stücke geben? reagierte er nur mit einem Nein.Seine Ablehnung war so deutlich, daß sie die Frucht später den Schwestern schenkte, ohne daß er auch nur ein einziges Stück davon probiert hatte.
Erst Wochen später konnte Peter ihr den Grund für seine Enttäuschung erklären: Er hatte solchen Durst und darauf gehofft, diesen mit süßem Ananassaft etwas lindern zu können. Darauf hatte er sich so gefreut, d a v o n hatte er geträumt nicht von einer frischen Frucht!
An diesem kleinen Beispiel zeigt sich, in welch katastrophalem gesundheitlichen Zustand sich Peter Berger nach seinem Erwachen befand, daß es ihm nicht einmal möglich war, selbst einen so kleinen eigentlich unbedeutenden Wunsch anderen mitteilen zu können. Es grenzt wirklich an ein kleines Wunder, daß sein Verstand diese schlimmen Tage trotzdem unbeschadet überstanden hat.
Nahe an seinem Ohr plauderte Carin über Belanglosigkeiten. Sie war schockiert über Peters körperlichen Zustand. Geschickt verbarg sie ihre Gefühle und die große innere Unruhe. Von Zeit zu Zeit gab sie ihm warmen Tee zu trinken. Peters Durstgefühl ließ allmählich etwas nach.
Zur Mittagszeit fütterte sie ihn. Das Essen in der Klinik war nicht dazu geeignet, den Patienten zum Essen zu ermuntern. Die billige, lieblos zubereitete Kost war absolut geschmacklos. Der Küchenleiter dieser Klinik schien selbst sechs Jahre nach der Wende nur an der Erfüllung seiner Planzahlen interessiert zu sein, und an einer totalen Geschmacksverirrung zu leiden. Während Peter über seinen Gesundheitszustand kaum ein Wort verlor, beschwerte er sich bei den Ärzten mehrfach über das miserable Essen.
Das erste Wiedersehen brachte für beide die bittere Erkenntnis, daß durch den Mordanschlag alles ganz anders geworden war und sich ihr zukünftiges Leben vollkommen verändern würde. Jede Woche hatte Carin Peter bei ihren Besuchen fotografiert und so seinen körperlichen Verfall dokumentiert. Ihre Befürchtung, daß es für ihn eine völlige Gesundung nicht mehr geben würde, sah sie sehr bald bestätigt. Weil Peter den Mordanschlag überlebt hatte, glaubte er immer noch an ein zweites großes Wunder, an die baldige und völlige Genesung.
Am frühen Nachmittag trat Carin die Heimreise an. Wenn alles gut ging, würde sie in etwa fünf Stunden zuhause sein. Obwohl sie die Strecke inzwischen fast auswendig kannte, erforderte eine so lange Fahrt über eine solche Distanz schon wegen der vielen Baustellen und der undisziplinierten Fahrweise vieler Autofahrer ein hohes Maß an Aufmerksamkeit. Oft war es ihr in der Vergangenheit nach ihren Besuchen in Dresden schwergefallen, sich nur auf die Straße zu konzentrieren. Sehr leicht kamen ihre Gedanken auf Abwege und erwachten ihre Ängste neu, stellte das Unterbewußtsein Fragen zur Vergangenheit und zur Zukunft, auf die der Verstand noch keine Antwort wußte.
Trotz des nebligen Spätherbsttages und der Eindrücke in der Klinik waren ihre Gedanken heute heller. Ein kleines Licht zeigte sich am Ende des Tunnels. Es war ein bißchen Hoffnung nur, ein kleiner Sonnenstrahl!
Nach der Notoperation hatte sich Peter zunächst überraschend schnell erholt. Fast eine Stunde hatte Peter auf Hilfe gewartet. Das war einfach zu lange, um eine derart schwere Verletzung ohne Komplikationen zu überleben. Die Ärzte hatten zu Recht vor allzu frühem Optimismus gewarnt.
Carin war nach dem Mordanschlag einige Tage in Dresden geblieben. Nachdem sich Peters Zustand stabilisiert hatte, war sie in ihre Wohnung in der Nähe von Stuttgart zurückgekehrt. Trotz der hoch-sommerlichen Tage war für sie die Wohnung jetzt kalt und leer. Die bange Frage um Peters Leben vermischte sich langsam mit der Angst vor der eigenen unüberschaubaren Zukunft, die sich auch für sie in einen nicht enden wollenden Albtraum verwandelt hatte. Sie hatte Peter finanziell über die schwierigsten Hürden geholfen. Aber wie sollte es jetzt weitergehen? Ihre Reserven waren verbraucht, das mörderische Verbrechen hatte ihre Zukunft zerstört.
Die anfänglich guten Nachrichten aus der Klinik änderten sich. Peter bekam eine schwere Lungenentzündung. Weitere Infektionen und eine Blutvergiftung folgten. Dann brachen erst wichtige Körperfunktionen, dann der Stoffwechsel zusammen. Nach einem Multiorganversagen hing Peters Leben über viele Wochen an vielen Maschinen und an einem sehr sehr dünnen seidenen Faden.
Selbst wenn die Chancen noch so gering sind, so bleibt dem Menschen bis zuletzt der Glaube an ein Wunder. Ein solches Wunder schafften die Ärzte in einem langen unerbittlichen Überlebenskampf. Oft spielte der Tod eine neue Trumpfkarte aus. Diesem ungleichen Spiel setzten die Ärzte bei Tag und Nacht ihr Contra entgegen. Sie schafften es, nicht nur Peters Leben eine neue Wende zu geben, sondern durch ihren unerwarteten Erfolg auch Carin wieder eine neue Chance für eine gemeinsame Zukunft aufzuzeigen.
Seine Gegner, die seinen Tod gewollt hatten, sie hatten ihn längst abgeschrieben. Sie waren sicher, daß er nie wieder seine Rolle spielen würde, ihre Pläne nie mehr stören, ihnen nie wieder gefährlich werden könnte. Diese Selbstüberschätzung ließ sie in diesen Wochen sehr leichtsinnig werden. Sie machten Fehler, vermeidbare Fehler. Nur Peter selbst hätte eines Tages die Wahrheit finden können. Mit ihm brauchten sie nicht mehr zu rechnen, das bewiesen die vielen Nachrichten über seinen äußerst kritischen Gesundheitszustand. Das Kapitel Berger und Rammenau schien für sie noch rechtzeitig und für immer abgeschlossen und beendet zu sein, ohne daß seine vorübergehende Anwesenheit allzu tiefe Spuren hinterlassen würde.
Carin wird jetzt schon zu Hause sein. Peters Gedanken begleiteten sie auf ihrer langen Fahrt. Sie hatte Sorgen, sehr große Sorgen. Das hatte er ihr angesehen und bei ihren Erzählungen gespürt. Sie hatte mit ihm über Freunde und Verwandte und über viele Belanglosigkeiten gesprochen. Ihre Ängste und Nöte hatte sie geschickt für sich behalten. Warum? War sein Zustand wirklich so ernst, daß sie ihm keine Aufregung zumuten konnte? Er hatte es selbst erlebt, wie schwierig es war, ihr nur ein einziges Wort mitzuteilen und wie sie ihn trotzdem mißverstanden hatte.
In dieser und in den folgenden Nächten kroch eine neue Angst in seinen Körper und überlagerte die immer noch unsäglichen Schmerzen. Er war todmüde und hellwach zugleich. Die Zeit verging unendlich langsam. Jeden Morgen glaubte er, während der langen Nacht nicht eine Minute geschlafen zu haben
Werde ich jemals wieder gesund? Komme ich eines Tages noch aus diesem Bett, kann ich jemals wieder laufen? Kann ich ohne diese piepsenden Apparate überhaupt noch existieren? Das Gespenst der Angst kam und drängte das schreckliche Geschehen auf dem Golfplatz mehr und mehr in den Hintergrund.
Am nächsten Morgen wurde ihm erneut die Sprechkanülle in die Luftröhre gesteckt und die beiden Beatmungsgeräte abgeschaltet. Seine Lungen sollten möglichst rasch wieder ihre natürliche Funktion aufnehmen. Obwohl ihm zusätzlich Sauerstoff zugeführt wurde, fiel ihm das selbständige Atmen ungewöhnlich schwer. Eine riesige bleierne Hand drückte auf die Brust und machte jeden Atemzug zur Schwerstarbeit.
Peter wollte den dicken, die Brust einengenden Panzer aufbrechen. Sein Körper setzte die letzten Kraftreserven ein, doch ohne fühlbaren Erfolg. Trotz der leeren, ausgetrockneten körperlichen Hülle, floß der Schweiß in Strömen. Es war nicht nur die Anstrengung, die ihm den Schweiß aus allen Poren trieb, es war kalter Angstschweiß kurz vor dem Erstickungstod. Das einsetzende piepsende Signal zwang den Arzt die Prozedur sofort abzubrechen.
Nach dem Essen versuchen wir es noch einmal. Ich will Sie nicht unnötig quälen, aber Sie müssen hier durch. Sie müssen die Strapazen ertragen und sich sehr anstrengen, damit wir bald auf die künstliche Beatmung verzichten können, versicherte der Arzt, der ihn nach seinem bösen Erwachen beruhigt hatte.
In diesen langsam länger werdenden Umgewöhnungsphasen konnte Peter mit Hilfe des Apparats sprechen. Seine Stimme klang mechanisch und fremd. Er fühlte sich in seinem eigenen Körper als völlig Fremder. Er hatte sich total verändert, er war ein ganz anderer Mensch geworden.
Die Arbeit auf einer solch großen Intensivstation ist auch für die Ärzte und Pfleger anstrengend und nervenaufreibend. Es sind ihre Patienten, die unter ihren Händen sterben oder die sie am Leben erhalten können. Die Schwestern und Pfleger wechselten dreimal am Tag. Peter sah ständig neue Gesichter, aber für sie alle war er ein guter alter Bekannter.
Viele von ihnen erzählten, daß er sie in den vergangenen Monaten oft in Angst und Schrecken versetzt hatte, wenn sich sein Zustand erneut verschlechtert hatte und er in die nächste lebensbedrohende Krise stürzte.
Peter Berger war noch nicht in dem Alter, in welchem man einen Patienten leichtfertig aufgeben, ihn verlieren durfte. Er wollte sein Leben nicht wegwerfen. Gemeine Verbrecher hatten versucht, ihn hinterhältig umzubringen. Kein Mensch hat das Recht zu einer solch mörderischen Tat, ganz egal wie er sie später zu rechtfertigen versucht.
Ärzte und Pfleger hatten eine lange, hundert Tage dauernde Schwerstarbeit hinter sich. Sie alle hatten es gemeinsam geschafft, Peter eine neue Chance, ihm sein Leben zurückzugeben. Sie hatten den Tod besiegt und einen großen Triumph errungen.
Jetzt mußten sie ihn von den Apparaten entwöhnen und seine geschwundenen Kräfte neu aufbauen. Gemeinsam wollten sie ihn wieder auf die Beine bringen.
An dieser Stelle sei allen Ärzten, Schwestern, Pflegern und Therapeuten für ihren langen und aufopfernden Einsatz in der Uniklinik Dresden, später in Bad Rappenau, in Karlsbad-Langensteinbach und Bad Dürrheim herzlich gedankt.
Wenn er nicht an die fast unerträglichen Schmerzen, die steifen Gelenke und seine Schwäche dachte, so glaubte Peter, war der Mordanschlag doch recht glimpflich abgelaufen. Seine Gedanken liefen wieder in normalen Bahnen, die Erinnerungen an die Vergangenheit waren lückenlos. Nur hundert Tage seines Lebens fehlten. Sie blieben für immer verschwunden.
Jetzt hieß es wieder an die Zukunft zu denken und eine Strategie für eine rasche Gesundung zu entwickeln. Die Besserung und Heilerfolge der ersten zehn Tage waren beeindruckend. Trotz zunehmender Hoffnung blieben noch viele Zweifel.
In wenigen Tagen bist Du wieder ganz der alte, machte sich Peter jeden Morgen neuen Mut. Hätte er seinen wirklichen Zustand erkannt, er wäre in tiefsten Depressionen versunken und hätte sich selbst aufgegeben.
Täglich verzichteten die Ärzte auf weitere Apparate, entfernten die Schläuche und vernähten deren Anschlußstellen. Eine gute halbe Stunde schaffte Peter es inzwischen ohne Beatmungsgeräte. Auch der Appetit war größer geworden und das große Durstgefühl hatte nachgelassen. Peter spürte es, jeden Tag kletterte er wie ein Laubfrosch von der untersten Sprosse einer langen Leiter, Sprosse um Sprosse dem neuen Leben entgegen.
Du siehst jeden Tag besser aus, versicherte ihm sein Neffe Florian, der kurz nach der Wende in Dresden mit seinem Studium begonnen hatte. Auch während der langen Komaphase war er regelmäßig in die Klinik gekommen, denn als ehemaliger Zivi wußte er, daß auch Patienten in solch fast aussichtslosen Situationen Ansprache und Zuwendung brauchen.
In steter Regelmäßigkeit brachte Florian ihm nun frische Milch, die in jenen Wochen mithalf, Peters körperlichen Verfall wieder umzukehren. Florian erzählte von seinen Eltern, von den Brüdern am Bodensee und der gemeinsamen Heimat. Selbst wenn das Wetter noch so schlecht war, kam er immer freundlich lächelnd und brachte jedes Mal ein Stückchen neue Hoffnung, den wertvollsten und wichtigsten Baustein auf dem Weg zurück in die Normalität.
Beim nächsten Wiedersehen sah Carin die eingetretenen Veränderungen. Sie brachte ihm diesmal die gewünschten Ananas in der Dose. Den süßen Saft trank Peter in gierigen Schlucken. Die Fruchtsückchen aß er mit einem großen Heißhunger.
Peter konnte inzwischen wieder hören und mit dem Apparat bereits längere Zeit sprechen. Von der Schwäche und den steifen Gelenken abgesehen, war er fast schon ein normaler Mensch.
Nach einer Weile fragte Carin sehr vorsichtig:
Erinnerst Du Dich noch an das Geschehen auf dem Golfplatz? Weißt Du noch, was da passiert ist?
Peter nickte. Ja, er erinnerte sich sehr gut daran. Seine Erinnerung war klar, selbst die Worte des Notarztes waren fest in sein Gedächtnis eingeprägt. Danach kam das große dunkle Loch mit den schrecklichen Albträumen. Dann war da die mörderische Luftblase und seine panische Todesangst. So etwas vergißt man nicht.
Hat mit Dir schon jemand darüber gesprochen? War die Polizei schon da? fragend schaute Carin Peter an, der den Kopf schüttelte.
Kannst Du mir erzählen, was und wie das alles passiert ist. Ich habe ein Diktiergerät mitgebracht und möchte Deine Aussage aufnehmen. Glaubst Du, Du kannst mit mir darüber sprechen?
Oft hatte Peter in den vergangenen Tagen, aber meist in der Nacht die Vorgänge zu rekonstruieren versucht. Er schilderte das Treffen mit Hieber, die gemeinsame Besichtigung der Golfanlage, den tödlichen Schmerz in seiner Brust, dem dann der Knall folgte und das lange vergebliche Warten auf Hilfe.
Aufmerksam hörte Carin zu. Immer wieder unterbrach sie ihn und fragte:
Weißt Du das ganz genau? Erkläre dies noch etwas genauer! Kann es nicht sein, daß Du Dich irrst?
Carin wußte: Er war der einzige Zeuge. Seine Aussagen waren wichtig. Sehr bald spürte Carin, daß ihm mit jedem Satz das Sprechen schwerer fiel. Als die Apparaturen zu piepsen begannen, beendete sie die Aufnahme. Zu Hause würde sie das Band abhören und auf Widersprüche prüfen.
Später erzählte Carin von gemeinsamen Erlebnissen und den neuesten Ereignissen in der weiten Welt. Sie hatte gesehen, wie das schreckliche Geschehen Peter wieder eingeholt, wie tief es ihn in seiner Seele gerührt hatte. Sie wollte ihn nicht weiter ängstigen und den Heilungsprozeß dadurch vielleicht verzögern.
Über ihre eigenen Gefühle und ihre schweren Stunden schwieg sie. Gutes hätte sie nicht berichten können. Sie hielt es für besser, ihm darüber noch eine Weile nichts zu sagen.
Peter hätte fragen können. Aber er war noch zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Carin teilte seine Sorgen. Sie aber hatte niemanden, dem sie sich anvertrauen und der sie auch verstehen konnte. Beim Abschied sagte sie:
Werde bald gesund. Ich vermisse Dich sehr. Ich brauche Dich!

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