der krumme paragraph (von peter köberle)
Formschön und in sich verschlungen, aber völlig
verbogen ist das Paragraphenzeichen "§", das durch
zwei in sich verschlungene "S" - dem Sinnbild der (doppelzüngigen falschen)
Schlange - gebildet wird. Manchmal ist es schlank, dann auch mal gedehnt;
meist ist es aber rund und behäbig.
Allein für sich gestellt ist es
unbedeutend, ja nichtssagend, selbst wenn man tausend davon in eine Reihe
stellen würde.
Auf den ersten Blick ist es ziemlich gleich. Nur wer genau hinsieht,
erkennt die feinen Unterschiede. Die Ansätze von oben und von unten sind verschieden.
Ist der obere Haken ein Sinnbild für eine feste Verankerung in der Rechtsstaatlichkeit
oder ein Hinweis auf die von oben und unten ganz unterschiedliche Sichtweise?
Der kleine Blinddarm unten scheint ins Nichts, in den leeren Raum zu gehen. Oder deutet das
untere Häkchen an, daß das Recht gezwungen ist, nahezu haltlos nur auf einem einzigen
krummen und wackeligen Bein zu stehen? Erkennt man in der Mitte den juristischen Freiraum
für die offene Gestaltung des von allen Seiten fest umschlossenen und gesicherten Rechts?
Ist dieser leere Raum vielleicht eine der vielen Maschen, in der vor allem die kleinen Fische
hängenbleiben?
Stellt man das Zeichen auf den Kopf, so ist es völlig gleich. Es spielt am Ende keine Rolle,
ob man es über die linke oder rechte Seite kippt. Dreht man das Recht um, so muß man
schon genau hinschauen, um das "Verkehrte" (Recht) zu erkennen. Sind im Paragraphenzeichen
sogar die Haken versteckt, an denen die Justiz ihr Fähnchen in den Wind oder (ungestraft) ein
Opfer hängen kann?
Nur durch das geschriebene Wort wird dem einzelnen § von seinen geistigen Vätern ein
einmaliges, nahezu unsterbliches Leben gegeben. Obwohl als geschlechtsloses Wesen
geboren, reproduziert es sich in vielfältiger Weise. In Verbindung mit dem Wort schafft
es Ordnung. Es fordert und fördert, hilft leere Staatskassen zu füllen. Es sichert
Privilegien, verleiht uneingeschränkte Macht und ist zuweilen Herr über Leben und Tod.
So verschlungen und krumm wie die vielen §§§§§§-en sind die Wege des Rechts. Es ist nicht der
Paragraph, es sind nicht die ihm zugeordneten Worte, die für das babylonische Durcheinander
die Schuld tragen. Es ist das den Paragraphen begleitende Heer der Juristen auf beiden Seiten des
Rechts, das spitzfindig - und fast schon gottähnlich - Worte und Begriffe so lange hin- und
herdreht, sie auf den Kopf stellt, nach eigenem Gutdünken verbiegt oder an andere Paragraphen
festzurrt, bis scheinbar (fast) alles wieder "seine Ordnung" hat.
Aus der Retorte geboren ist der einzelne § meist harmlos. Zu blindem Gehorsam verdammt, wird
er sich nie gegen den eigenen Vater erheben. Durch beste Beziehungen und allseits geknüpfte
Verbindungen wird er manchmal im Laufe der Jahre zum gigantischen Moloch und in den Händen
willfähriger Rechtsverdreher zum rechtsfressenden und menschenverachtenden Monster.
Wehe dem, der solchen Kannibalen des Rechts begegnet! Zunächst wird er als dummer
Querulant abgestempelt. In Phase zwei wird er kriminalisiert. Gibt er den ungleichen und fast chancenlosen
Kampf nicht freiwillig auf, so gibt es viele gemeine und gemeinsame Tricks ihn zu bremsen und zur Aufgabe
zu zwingen. Führt auch dieser Weg nicht zum Erfolg, so warten sie geduldig auf die
Verjährung und hoffen gleichzieitig auf eine vorzeitige biologische Lösung. In einem
undurchsichtigen - kokonähnlichen - Gespinst von Paragraphen und Lügen ist das Recht
längst selbst zum Gefangenen geworden, in dem selbstgefällige Rechtskobolde und
rechtsverachtende Kannibalen ungestraft ihr Unwesen treiben können.
Peter Köberle
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